Boris von Brauchitsch

Ernst. Institut für Universalkultur
VIII. Anna und Bernhard Blume: Waldeslust - 8. Juni - 20. Juli 2023

„In ihrem ganzen Leben waren die zwei Kameraden noch nie so weit in die Welt hinaus­gekommen wie an diesem Morgen. Von ihrer Heimat war nur noch die Kirchturmspitze zu sehen, die nadelfein heraufragte über den blauträumenden, das ganze Tal durchquerenden Buchenwald. Die goldene Kugel auf dem grüngestengelten Kupferdach des Turmes blinkte in der Maisonne wie ein Stern, so fern, daß ihn keine Sehnsucht zu erreichen wagt. Dennoch wanderten die beiden Kameraden noch immer weiter hinaus in die fremde, wundersame Welt. Jede neue Bergzinne, die sich mit silbernen Schneefeldern heraushob über die steilen Wälder, war ihnen wie ein unerhörtes Ding, bei dessen Anblick man Herzklopfen bekommt. Sie standen und guckten. Und schritten weiter mit jenem Mute, der ein Nieerlebtes zu erleben hofft.“ So beginnt ein Jahrhundertroman. Aus den beiden Jungs in Ludwig Ganghofers Waldrausch aus dem Jahr 1908 ist 1982, quasi in nächster Generation, ein kleinbürgerliches Ehepaar mittleren Alters geworden.

„Noch eine halbe Stunde durch einen ordentlichen Tannenreinbestand, dann war der Gipfel­punkt erreicht. Der herrlich freie Blick vom zweithöchsten Schwarzwaldberg hinunter ist ein unvergleichliches Erlebnis. Bei schönem Wetter kann man bis ins Rheintal sehen“, so klangen die Wanderer Anna und Bernhard Blume im Elan der Romantik, um ebenso enthusiastisch fortzufahren: „Früher stand hier ein Wald. Am Steilhang liegen die toten, umgestürzten Tannenbäume noch durcheinander. Inzwischen wurde aber aufgeforstet. Hier machen wir ein Foto mir Stativ und Selbstauslöser: Das Bild zeigt uns so recht in Urlaubsstimmung.“

Man kann es ihnen nicht verdenken, dass sie sich nach Ferien sehnten. Sie waren urlaubsreif, denn was ihnen zuvor in ihrem Eigenheim alles zugestoßen war, davon zeugen dramatische Bildserien. Vasenekstasen hatten ihr Wohn- in ein Wahnzimmer verwandelt und in einem Küchenkoller waren rotierende Kartoffeln zu Flugobjekten geworden, gegen die heutige Drohnen wie Kinderkram erscheinen. Die Tücke der Objekte wurde zur Eigen-Heim-Tücke. Niemand hätte ihnen geglaubt, hätte das Paar nicht geistesgegenwärtig zur Kamera gegriffen, um das Holterdipolter zu dokumentieren. Fotografie wurde so zum Medium der Sichtbarmachung psychopathetischer Vorgänge im Grenzbereich ideoplastischer Turbulenzen.

Nun sind sie diesen Attacken entkommen und entsprechend gelöst. Da stört auch das Wald­sterben nicht weiter. Das Paar taucht auf und winkt von fern in die Kamera. Dann porträtiert Bernhard Anna in ihrer legendären Erscheinung als Kleinbürgersgattin. Doch kaum richten die beden ihren Blick auf das Ambiente, formiert sich der Wald zu einem Schriftzug. Benennt sich selbst als die Materie, aus der er besteht. HOLZ.

Das könnte auch ein Kinderstreich sein, doch nachdem, was man aus den Erfahrungen mit telekinetischer Hysterie weiß, besteht allemal der Verdacht, dass hier der Wald selbst aktiv geworden ist. Das Mysterium, es lebt nicht nur, sondern es verfolgt die Blumes auch bis ins Unterholz. Wir alle sollten uns ein Beispiel nehmen, mit wieviel unerschütterlichem Optimis­mus das Paar solche Situationen meisterte. Eine ordentliche Prise Kleinbürgertum, und schon hat es den Anschein, als gehe man viel solider durchs Leben. Doch so wie das Hässliche existieren muss, damit man das Schöne sieht, braucht es auch die Ordnung, um im Chaos schwelgen zu können. Und wo bitte ist die Ordnung zwanghafter als in kleinbürgerlichen Idyllen?

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