Boris von Brauchitsch

ERNST. Institut für Universalkultur
X. Emma Grün | 787 - 17. Mai - 7. Juli 2024

Vision

Die Milchstraßen
sind vermessen
Mars-Aktien
steigen
der Orion
ist zum Kauf ausgeschrieben
längst
wurde das Herz der Hydra
ausgetauscht


Vorbei an der restlos
erforschten Cassiopeia
geht ein Engel
auf Stelzen
über den Himmel
seine Flügel
hat er dem Antiquitäten
händler verkauft

Für eine Handvoll
Silberlinge

Ilse Tielsch

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787
Zu Emma Grüns Anatomie der Engel

Es gibt ebenso drängende wie zeitlose Fragen, etwa: Warum erzeugen Vampire kein Spiegelbild? Kann man Gerüche träumen? oder: Schlafen Engel? Und falls ja, tun sie es im Stehen? Ihre Flügel jedenfalls scheinen eine humane Schlafposition fast unmöglich zu machen und es liegt der Verdacht nahe, dass sie – anders als die Menschen – auch nicht zum schlafen geschaffen wurden. Sie waren über Jahrtausende Kuriere und Schutzengel, unterwegs, wachsam und zu bedauern, denn was gäbe es Köstlicheres als den Schlaf.
Wenn wir ehrlich sind, wissen wir fast nichts über Engel. Augenzeugen berichten von sechs-flügeligen Seraphim am Thron Gottes, etwa der Prophet Jesaia, von himmlischen Wesen mit vier Gesichtern, vier Flügeln und Rädern, wie der Prophet Ezechiel, von Ringkämpfen mit Engeln, wie Jakob, von Seraphim in der Gestalt von Christus, wie sie der Heilige Franz von Assisi in Ekstase sah, und von kleinen, schönen Überbringern der himmlischen Liebe mit entflammten Gesichtern, wie sie der Heiligen Theresia von Avila erschienen.
Aber ist solchen Augenzeugen zu trauen? Ist nicht mehr Verlass auf die Wissenschaft? – Leider nein. Denn auch die eher spröden Theoretiker haben bislang keineswegs mehr Klarheit in himmlische Ordnungen gebracht, ob Bonaventura, Hildegard von Bingen, Thomas von Aquin oder Martin Luther: Fragen zu Anzahl, Stellung, Nahrung, Wachstum, Körperlichkeit, Geschlecht und Vermehrung der Engel sind weiterhin strittig.

Das Bild der Engel, das uns heute gegenwärtig ist, verdanken wir daher den bildenden Künstlern, die sich oft nur vage an den Augenzeugenberichten orientierten und stattdessen auf ihre Intuition und ihr eigenes gutes Auge vertrauten. Im Jahr 787 gestattete das Konzil von Nicäa die Abbildung von Engeln: Damit nahm alles seinen Anfang. Kunst, das wusste man offenbar auch schon in Nicäa, gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Insofern das perfekte Medium für Engel.
Doch was die Kunst hinsichtlich der Engel sichtbar machte, gab Anlass zu Besorgnis, denn Betrachten wir das Schicksal der Engel seither, dann kann man nur konstatieren: Es ging stetig abwärts. Aus mächtig-unnahbaren Boten und Rächern wurden in der Renaissance erotische Schönlinge, Bodyguards und Kerzenhalter und schließlich feiste Putten auf Grießnockerl-Wolken, wie sie bevorzugt bayrische Barockkirchen bevölkern. Und heute? Welche Aufgaben haben Engel in der Gegenwart?

Emma Grün lässt diese Frage unbeantwortet, denn Kunst ist nicht da, um Fragen zu beantworten. Die Künstlerin schlägt mit ihrer Installation stattdessen ein neues Kapitel auf. Sie verwandelt den Ausstellungsraum von ERNST in das, was er in Wahrheit ist: Labor für Experimente, Schaukasten ungeahnter Realitäten. Sie macht Schluss mit Phantastereien, Spekulationen und anderen frag-würdigen Visualisierungen und widmet sich der vergleichenden Anatomie der Engel.
Zunächst sieht es danach aus, als gehe es um die Beantwortung der eingangs gestellten Frage: Schlafen Engel – und wenn ja: wie? Könnte die Konstruktion der Flügel etwas Eigenständiges sein, abnehmbar und somit bequem beiseite zu stellen, sobald der Arbeitstag der Engel zu Ende gegangen und es Zeit ist, sich in die Horizontale zu begeben? Das Exemplar, dass Emma Grün präsentiert, mag tatsächlich aussehen, als wäre es ein additives Transportmittel, ist der Engel, dem es gehören muss, doch abwesend, ohne Flügel außerhalb unterwegs – oder tatsächlich schlafen gegangen.
Vielleicht aber ist dieses seltsame Objekt, bestehend aus Alltagsmaterialien, aus Holz und Kabeln, auch ein Flügelfüßler. Wäre ein solch himmlischer Alapoda das spirituelle Pendant zum Kopffüßler, dem Cephalopoda in den Tiefen des Meeres, dessen Artenvielfalt vom Aussterben bedroht ist, ganz so, wie die Artenvielfalt der Engel?
Die Wahrheit aber ist auch hier – einmal mehr – überraschend einfach und es erstaunt, warum die Wissenschaft nicht dahintergekommen ist: Was wir sehen, ist ein Brustkorb, Schutzraum der Lungenflügel.
Dass auch bei jenem Organ von Flügeln die Rede ist, welches Luft in den menschlichen Körper bringt, kann kein Zufall sein. Die externen Flügel der Engel sind beim Menschen internalisiert. Die Freiheit der Bewegung liegt in unserer Brust, in unserem Atem, der das Blut versorgt und die Sprache ermöglicht, im Odem, der uns als Lebensgeist eingehaucht ist und im Ruach, jenem Wind der hebräischen Bibel, der alles durcheinanderwirbelt, reinigt und beschwingt.

Auch der Engel, der sich spontan und flüchtig als Zeichnung materialisiert und sich der anatomischen Studie beigesellt, scheint angesichts von Emma Grüns Entdeckung ins Grübeln geraten zu sein. Er beantwortet, ganz nebenbei, zwei weitere drängende Fragen: Haben Engel Körperbehaarung? Ja, das haben sie offensichtlich. Und werfen sie Schatten? Ja, das tun sie. Auch beleuchtete Lichtgestalten können Schatten werfen, wie wir sehen. Emma Grün ist hier Expertin, begann sie doch als Lichtdesignerin ihre künstlerische Laufbahn.
Ihre ursprüngliche Heimat aber ist das Theater. Als Tochter eines Bühnenbildners und einer Kostümbildnerin eröffnet sie intuitiv ihren Gestalten und Objekten einen Bühnenraum, der das Zweidimensionale mit dem Dreidimensionalen interagieren lässt, in dem Engel real und Schatten gemalt sein können. So treten die Engel unter uns, als Figurinen und Außerirdische, als Rächer und Verführer, als Nachbarn und Freunde.
ERNST wird mit dieser Installation zum naturkundlichen Schaukasten, zeigt aber als Bühne zugleich auch die Szene eines klassischen Dramas: Der Engel tritt auf, sieht das, was ihm die katholische Kirche über Jahrhunderte verboten hatte zu sehen – anatomische Studien – und begreift seine Verwandtschaft mit den Menschen. Wir werden Zeugen dieses Schlüsselmoments. Was daraus folgt, liegt in den Sternen.

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