Boris von Brauchitsch

Ernst. Institut für Universalkultur
II. Anny Öztürk | Vanishing Act, 15. August - 15. September 2019

Das Hippodrom, heute Sultan-Ahmed-Platz in Istanbul, war sozialer Mittelpunkt Konstantinopels. Es fasste hunderttausend Besucher, also gut ein Viertel mehr als das Berliner Olympiastadion, und hier fanden nicht nur die beliebten Pferderennen und dazugehörigen Pferdewetten statt, sondern es bot darüber hinaus Platz für Feste und Begegnungen aller Art.

Hier steht auch das älteste Monument Istanbuls, der Obelisk, den sich Theodosius I. angeeignet hat, ein Denkmal, das wie alle Obelisken etwas Würdevolles und Respekteinflößendes besitzt. Der Kaiser schmückte seine Hauptstadt mit Diebesgut aus verschiedenen Provinzen seines Reiches, darunter befand sich auch dieses ägyptische Denkmal aus Luxor, das er im Jahr 390 nach Konstantinopel bringen ließ und dabei ziemlich ramponierte. Der Obelisk war damals bereits fast 2000 Jahre alt und erinnerte an Siege des militanten Pharaos Thutmosis III. Diese wurden nun im Sockel durch bildliche Darstellungen von Theodosius, seiner Familie, seiner imperialistischen Erfolge und der unterwürfigen tributpflichtigen Völker, darunter Germanen und Perser, ergänzt.

Obelisken zu stehlen war beliebt. Heute stehen ägyptische Obelisken in Rom, London, Paris, München und New York. Und wer keinen ägyptischen Obelisken abbekommen hat, gab selber einen in Auftrag, der dann zwar nicht so alt war, dafür aber noch größer ausfallen konnte. Deshalb gibt es monumentale Obelisken auch in Washington, Boston, Kiew, Prag, Buenos Aires und am Wiesbadener Kreuz.

Doch warum dieses Verlangen nach Obelisken? Obelisken sind die versteinerten Lichtstrahlen des Amun-Re, die beweisen, dass der Sonnengott sein Antlitz wohlwollend Orten zugewandt hat, an denen solche Obelisken zu finden sind. Und sie sind noch mehr als das, denn die granitharten Strahlen sind zugleich konstante Verbindungen zwischen Menschen und Götterwelt, sie sind Antennen, dazu geschaffen, den direkten Draht nach oben zu demonstrieren und das Gottgnadentum irdischer Herrscher zu veranschaulichen.

Wenn  nun ein solcher Obelisk in Berlins kleinstem Ausstellungsraum Platz findet, mag das als Zeichen imperialer Ansprüche verstanden werden, ist jedoch vor allem ein Ausdruck von göttlicher Inspiration. 

Doch Anny Öztürk hat ihren Obelisken verhüllt, vergittert, verborgen. Statt weithin sichtbares Zeichen zu sein, scheint er zu verschwinden. Und genau an dieser Stelle des Verschwindens berührt sich das Wahrzeichen des Alten Ägyptens mit der Biografie der Künstlerin türkischer Herkunft.

Anny Öztürk wurde im Istanbuler Stadtteil Dikilitaş geboren, was soviel bedeutet wie Obelisk. Und sie verbrachte dort ihre ersten zwei Lebensjahre.  Dass sie sich an das riesige weiß schimmernde Denkmal erinnern kann, das auf der Hauptstraße stand und namensgebend für ihr Viertel war, schreibt sie ihrem bemerkenswerten Gedächtnis zu. Heute nennt sie das, was sie damals sah „mystisch“ – ein Begriff, der ihr als Zweijähriger zweifellos noch nicht zu Gebote stand. Die neu interpretierte Erinnerung wird jedoch von der schon länger andauernden Gegenwart eingeholt und für trügerisch befunden. Denn inzwischen ist der Obelisk, ein kleiner Bruder des Theodosius-Denkmals, der nun seit über einem Jahrhundert in Dikilitaş steht, ziemlich winzig geworden. Jedenfalls in den  Augen der Künstlerin. Doch er steht nicht nur verloren auf einer Verkehrsinsel, sondern wurde inzwischen auch noch in einen Käfig gesperrt, um ihn ganz allgemein vor der profanen Unbill des Alltags und konkret vor dem Müll der Nachbarn zu schützen.

Der ferne Nachfahre der noblen Obelisken Ägyptens erscheint hier arg heruntergekommen, schutzbedürftig und aus der Zeit gefallen. Das Zeitalter der Obelisken, so könnte man denken, ist vorbei, auch wenn sie manchenorts noch als hohle Pathosformeln überdauert haben. Aber der göttliche Funke will nicht mehr überspringen.

Daher ist es an der Zeit, dem Obelisken und seinem Verschwinden ein Denkmal zu setzen. Und welcher Ort wäre besser dafür geeignet, als der intime und zugleich öffentliche Raum zu Füßen eines anderen Monuments, das sich selbst überlebt hat: dem Wasserturm. Wenn der Obelisk im Vergleich auch winzig erscheint, er ist monumental noch als Miniatur und kann es mit jedem Bauwerk aufnehmen. Wer weiß, vielleicht kann er hier sogar heranwachsen und eine neue Dynastie von Obelisken begründen. Göttliche Inspiration jedenfalls könnte auch in Zukunft nicht schaden.

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