Ernst. Institut für Universalkultur
IX. Stefan Dieterich | ANGKOR MADSTOP - ab 27. Juli 2023
Warum in die Ferne schweifen, sieh` das Gute liegt so nah. Mit diesen – ausgerechnet an Goethe orientierten – Zeilen pflegte man Werbung für die Heimat zu machen und Stimmung gegen Auslandsreisen. Doch wie es Sprichworte so mit sich bringen: Es gibt eigentlich immer auch ein zweites, das in etwa das Gegenteil behauptet. In diesem Fall würde meine Wahl auf Der Prophet gilt nichts im eigenen Land fallen.
Um etwas zu gelten, war eine Fernreise lange Zeit nicht die schlechteste Option. Der Vorteil besteht darin, dass man bei der Rückkehr von weit herkommt und dann vielleicht sogar im eigenen Land etwas gelten kann. Heute, wo nicht nur Kreti und Pleti, sondern auch Hinz und Kunz ihre Ferien auf Phi Phi oder Bikini verbringen, hat dieses Von-Weit-Herkommen allerdings viel von seinem Glanz eingebüßt. Zumal die Weitgereisten in der Regel erstaunlich wenig zu erzählen haben.
Das liegt nicht nur daran, dass viele jenseits von Pool und Buffet kaum etwas wahrnehmen, sondern manchmal auch daran, dass denjenigen, die das Land tatsächlich erkunden wollen, die Zeit fehlt, einzutauchen, weil immer schon die nächste Attraktion um Aufmerksamkeit buhlt, obwohl die gegenwärtige noch gar nicht erlebt werden konnte.
Es gibt ein Objekt, das beim Eintauchen hilft. Dieses Objekt ist eine analoge Großbildkamera. Sie verlangsamt, oder wie man heute sagt: sie entschleunigt. Mit einer solchen Kamera zu arbeiten, braucht Zeit und Ruhe. Die Wahrnehmung verändert sich zwangsläufig. Stefan Dieterich fotografiert mit einer solchen Kamera.
Sie ist das Gegenteil eines Handys. Hier wird kein Streulicht und kein Rauschen reduziert, hier wird nicht automatisch nachgeschärft, hier wird auch nicht die Nacht zum Tag gemacht und mit HDR-Technik schöngerechnet. Stefan Dieterich verwendet alte Objektive, die das Motiv weich umschmeicheln und die auch ihre Fehler haben, die vor allem aber dabei helfen, den Ort, das Licht und die Situation zu sehen und zu respektieren. Wer so fotografiert, der hat die Bilder hinterher nicht nur auf Film, sondern auch im Kopf.
Als Stefan Dieterich zurückkehrte aus Angkor, fielen ihm die Bauten im Park von Sanssouci, für den sein Namensvetter Friedrich Wilhelm Dieterich einst den Grundstein gelegt hatte, ganz anders ins Auge. Das Naheliegende wandelte sich durch den Blick, den der Fotograf aus der Ferne mitgebracht hatte. Im Licht von Angkor wirkte Potsdam exotisch, im Licht von Potsdam erschien Angkor seltsam vertraut.
Doch was hat der größte Tempelbezirk der Welt in Kambodscha mit dem Lustgarten der preußischen Könige gemein? War es lediglich der Blick des Fotografen, der die Ähnlichkeiten bedingte, oder waren es die königlichen Orte selbst, die sich ähnlich waren?
Interessanter, als diese Frage zu beantworten, ist es, sie zu stellen. Auch dabei ist eine Kamera hilfreich, die Langsamkeit verlangt – eine Langsamkeit, die die Wahrnehmung schärft.
Um Goethe gerecht zu werden, sollte man noch einen Blick auf das Gedicht mit dem bezeichnenden Titel Erinnerung werfen, das für jenes eingangs zitierte Sprichwort verfälscht wurde:
Willst du immer weiter schweifen? Sieh, das Gute liegt so nah. / Lerne nur das Glück ergreifen, denn das Glück ist immer da.
Das Reisen an sich wird also keineswegs verdammt, sondern die Flüchtigkeit, die Hektik, das topografische Speed Dating, jenes Schnell-Weiter zur nächsten Sensation. Denn nicht die Distanz zur Heimat ist der Faktor, sondern die Zeit, die man sich nimmt. Auch wer das ferne Angkor mit Muße durchstreift, der erlebt, wie das Glück zum Greifen nah sein kann und alle Sorgen schwinden. Mindestens das vereint die zauberhafte Dschungelstadt mit jener Idee, die Sanssouci zugrunde liegt.