Boris von Brauchitsch

ERNST. Institut für Universalkultur
demnächst: XII. Susanne Besch: Das Gemurmel der Sibyllen - ab 12. Juni 2025

Kann es so etwas geben wie eine zweite Heimat? Wenn ja, dann liegt sie für Susanne Besch unweit von Rio. Nicht von Rio de Janeiro, dem brasilianischen Fluss des Januars, sondern von Rio, dem Dorf im Osten Elbas. Wozu sechs oder sieben Millionen, wenn tausend Menschen im Grunde schon zu viele sind. Daher verbringt Susanne Besch ihre mediterranen Tage auch nicht unmittelbar in Rio, sondern in einem Kloster der besonderen Art außerhalb des Ortes. Santa Caterina hat eine Kirche, einen Rosen- und einen botanischen Garten, doch das außer­gewöhnliche liegt in seiner jüngeren Geschichte als Oase des freien Denkens und der Konse­quenzen, die sich aus freiem Denken ergeben.

Die Spuren dieser jüngeren Geschichte sind aber nur die oberste feine Schicht archäolo­gischer Ablagerungen, die den Ort und die Region ausmachen. Santa Caterina ist somit weit mehr als ein Raum des Rückzugs, es ist auch eine Stätte des Aufbruchs. Im Werk von Susanne Besch wirkt das Kloster weniger als Stand-Ort, sondern vielmehr als Kulminationspunkt, an dem zusammenfließt, was in den Augen der Künstlerin die Insel und ihre Geschichte aus­macht.

Spätestens seit den Zeiten der Etrusker wurden die Erzmienen Elbas erschlossen und noch immer sind die Hinterlassenschaften des Tagebaus sichtbar. Susanne Besch sammelt die Überreste vergangener und untergegangener Epochen und vollzieht in ihren Werken den Prozess der Sedimentation nach, indem sie sie in einem Bildgrund aus Gips versenkt und dabei ihre rostigen Ausblühungen forciert. Die technischen Relikte werden endgültig dysfunk­tional und offenbaren in neuem Kontext den Purismus ihrer archaischen Formen.

Archaisch wirken auch die neuesten Objekte, Tontafeln, in die ornamental Lettern eingeprägt sind. Es sind aber keine Hieroglyphen, auch keine Keilschrift, nichts was seit Jahrtausenden unter Kulturschutt begraben lag, sondern sie offenbaren sich unmittelbar als Typen einer Schreibmaschine. Diese Tafeln spielen also nur mit der Anmutung des Archäologischen und sie sind nicht zufällig postkartengroß, als seien sie geeignet, als Urlaubsgruß verschickt zu werden. Selbstverständlich kommen uns Postkarten und Schreibmaschinen im digitalen Zeit­alter auch schon archaisch vor. Manchmal wirken sie wie die letzten physischen Dokumente menschlicher Kommunikation. Und für manch Heutigen mögen sie fast ebenso fern erschei­nen, wie Menschen des 19. Jahrhunderts die Antike fern erschien.

Wer seine Botschaften in Stein meißelt, auf Pergament niederschreibt oder auch nur in Ton prägt, der scheint etwas für eine relative Ewigkeit festhalten zu wollen, etwas von Bedeutung, etwas, das Gewicht hat, etwas, das den Aufwand wert ist. Und so vereint auch Susanne Besch auf zehn Tafeln alles, was sie an tiefen Erkenntnissen mitzuteilen für Wert befindet. Wer denkt da nicht an die biblischen Gesetzestafeln, die Moses vom Berg Sinai herabschleppte?

Doch statt Geboten finden sich Gedanken. Die Themen sind dabei so groß, wie die Tafeln klein sind. Das Wir und die Anderen (die Fremden, Die-da-oben, die Nutzlosen), das Zeit/Alter, die Gravitation (so wichtig für den Archäologen). Oder das Ich als auratische Pyramide, als babylonischer Turm, als Keil, die Erde als Materie und als Leerraum. Und dann eine Erde, die mit dem Himmel ein Koordina­tenkreuz bildet. Die beiden verharrenden Geraden, die alles einschließen, jede Abweichung von ihnen Bewegung, Leben, womöglich Kunst. Schließlich das Wasser und die Luft und der Begriff des Privaten, durchsetzt mit Paragraphen. Die Schichtun­gen werden zu Geschichte, das Aufeinander­folgende ist gleichzeitig gegenwärtig. Darin liegt das Mysterium.

„Die Tontafeln zu dechiffrieren, sollte ein bisschen geheimnisvoll sein“, sagt Susanne Besch. „Wie das unverständliche Gemurmel der verrückten Sybillen.“ Die zerbrechlichen Objekte erscheinen als Protokolle verstreuter Weissagungen, die vielleicht auf ewig unverständliche Erkenntnisse verkünden. Bei ERNST präsentiert die Künstlerin nun ihre Gedankenarchäologie. Und wie es sich für archäologische Funde geziemt, bleiben auch sie Fragment. Was man zu sehen be­kommt im Leben, ist meistens etwas weniger als die Hälfte der Wahrheit. So auch hier.

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