ERNST. Institut für Universalkultur
XI. Detlev Pusch ǀ Schöner Schlamassel -- ab 9. August 2024
Detlev Pusch
Schöner Schlamassel. Versuch einer anamorphischen Ontologie
Blickt man in den Spiegel, so sieht man den Tod arbeiten, wusste schon Jean Cocteau. Doch diese Arbeit des Todes kann man im Handumdrehen in Müßiggang verwandeln, nimmt man einen Apparat zu Hilfe, der die Zeit zum Stillstand bringt. Dieser Apparat, die Kamera, ist ein magisches Instrument. Benutzt man es, wird der Tod untätig. Der Preis dafür ist hoch, denn das entstandene Produkt, das fotografische Bild, erscheint nicht mehr lebendig, sondern eingefroren.
Irrtümlich war man deshalb nach der Erfindung der Fotografie davon ausgegangen, dass sie selbst ein Gehilfe des Todes sei, gar eine moderne Waffe des Sensenmannes, dass sie töte oder zumindest entseelte Bilder liefere. Doch weit gefehlt. Fotografie ist vielmehr ein Waffenstillstand zwischen Leben und Tod.
Inzwischen ist alles fotografiert worden. Nur noch nicht von allen. Aber die Menschheit als ganze hat nichts ausgelassen, denn Fotografie vermittelt das gute Gefühl, etwas zu begreifen, von ihm Besitz ergreifen zu können. Ist aber alles auf fotografischem Wege in unseren Besitz übergegangen, landet man am Ende wieder bei sich selbst.
Blickt man in den Spiegel, kann man sich selbst erkennen. Wenn man das möchte. Nimmt man die Kamera zu Hilfe, geht es allerdings selten darum, andere an dieser Selbsterkenntnis teilhaben zu lassen, sondern ihnen etwas zu zeigen, was man selbst gerne sieht. Der Blick in den Spiegel ist folglich selten Selbstreflexion, richtet er sich in der Regel doch gar nicht in den Spiegel, sondern in die sich spiegelnde Kamera als Stellvertreterin der Anderen. Der eigene Blick sucht der Blickkontakt mit Fremden, doppelt umgeleitet über den Spiegel und durch die Kamera.
Zugleich will man sich beim Selfie von seiner besten Seite zeigen. Ist diese beste Seite trotz Photoshop nicht befriedigend, lässt sich der Fake noch weitertreiben, indem uralte Fotos zum Einsatz kommen, mit denen man rückblickend Frieden geschlossen hat – oder aber man greift gleich auf Fremdfotos zurück.
Das Selfie ermöglicht es zudem, sich selbst bei der Aufnahme zu anonymisieren. Man hält den Apparat einfach so, dass er das Gesicht bei der Aufnahme verdeckt. Oder der Moment des Auslösens wird sogar zugleich zum Moment des Auslöschens, fall zusätzlich ein Blitz zum Einsatz kommt, der, im Spiegel reflektiert, weite Teile des Bildes überstrahlt. Das Spiel vom Sehen und Verbergen ist ein altes Spiel. Wir spielen es schon seit der Kindheit, es liegt uns in den Genen.
Detlev Pusch hat den Fundus der Chatportale durchstöbert und aus der unüberschaubaren Masse typische Selfies ausgewählt, die er malerisch überarbeitet und so in Unikate verwandelt. Er wirft damit nicht nur die Frage auf, ob ein von ihm bearbeitetes Selbstporträt eines Fremden weiterhin ein Selbstporträt ist, sondern stellt sich darüber hinaus in die lange Tradition der Appropriation Art, die das Fließen der Grenzen zwischen Plagiat, Fälschung, Kopie, Aneignung, Zitat und Vorbild untersucht – oder sich einen Scheiß darum kümmert.
Was diese Appropriation besonders sympathisch macht: Sie vermeidet es, dem zahllosen Gewimmel an scheinbar originalen Werken weitere hinzuzufügen. Nirgendwo wird dabei deutlicher, wie fragwürdig die Vorstellung von geistigem Eigentum ist, als in den ewig reproduzierten Posen, die älter sind als die Fotografie selbst. Dennoch (oder gerade deshalb) verfehlen sie ihre Wirkung nicht. Das Konventionelle ist noch immer am leichtesten lesbar, am schnellsten verständlich.
Detlev Puschs Hybride zwischen Fotografie und Malerei knüpfen auf ihre Weise auch an die Frühzeit der Fotografie an, in der sich Foto und Gemälde gegenseitig befruchteten. Ohne die Erfindung der Fotografie wäre der Realismus in der Malerei kaum vorstellbar, ohne den Impressionismus wiederum hätte es den Pictorialismus, der Malerisches in der Fotografie etabliert, nicht gegeben. Fotografen nutzten gemalte Hintergründe und kolorierten ihre Aufnahmen, Maler nutzten fotografische Vorlagen und ließen sich von den oft zufälligen Bildausschnitten der Fotografie inspirieren. Es bedurfte einer gewissen Askese, um diese lustvollen Vermischungen als etwas Negatives zu betrachten. Lange waren sie im 20. Jahrhundert verpönt, sie galten als unsauber, als dekadent, als nicht mediengerecht. Noch 1975 fragte sich Michel Foucault: „Wie kann man zu dieser Verrücktheit und zu dieser Freiheit zurückfinden, die zeitlich mit der Geburt der Photographie aufkamen?“ Künstler wie James Bidgood, Gilbert & Georges oder Pierre et Gilles machten mit diesem Purismus Schluss, vermischten die Medien und scheuten sich nicht vor Kitsch. Vielleicht ist es kein Zufall, dass diese wichtigen Vorreiter der neuen Lust am Medienfluid, am Transmedialen schwule Künstler waren. Es fällt nicht schwer, Detlev Pusch mit seinen neuen Bildern in dieser Tradition zu sehen.
In seiner Installation SCHÖNER SCHLAMASSEL für ERNST. Institut für Universalkultur blickt das Selfie selbst in den Spiegel und beginnt auf diese Weise ein Eigenleben ohne das Modell. Was wir sehen, ist nur die Reflexion des Selfies von sich selbst. Das gespiegelte Spiegelbild erscheint dabei realer als das Foto, nicht weil das Foto realer erscheint, sondern weil der Spiegel real ist.
Eingebettet ist dieses Herzstück der Installation in die schwarz-weiße Fotografie einer klassischen Eisenbahn-Brücke der Jahrhundertwende, die sich zu einer abstrakten Komposition deformiert, aufbäumt, verdichtet. Dysfunktional wie nach einem Krieg oder Erdbeben: Das perfekte Bild für das übertriebene Krisen-Empfinden unserer Tage.
Wir verdanken solche Bilder jenseits gängiger Konfektion, die alle Gesetze der Logik und der Statik außer Kraft setzen, der überforderten Panorama-Funktion digitaler Kameras. Als bewusst herbeigeführte Zufallsprodukte nutzt sie Detlev Pusch, um aufzuzeigen, welches Potential in der Überschreitung der eigenen Möglichkeiten liegen kann. In ihrer Überforderung macht sogar die Technik Anleihen beim Kubismus.
Und mittendrin im apokalyptischen Chaos das Selfie als Ausdruck eines ungebrochenen Bedürfnisses nach Selbstbespiegelung. Als persönliche Folie zur Abschottung vor der globalen Wirrnis veranschaulicht es einen modernen Analphabetismus, eine letzte rudimentäre nonverbale Kommunikation mit der Außenwelt.
In SCHÖNER SCHLAMASSEL begegnen sich das Konventionelle und das Unkonventionelle der Fotografie zu einem intimen Dialog, in dem sich weit mehr offenbart, als die alte Weisheit, dass beide mit der Wirklichkeit wenig zu tun haben.